Warum der Löwenzahn und der Schwarzdorn nicht gleich schön sind

  03.05.2023 Schule&Bildung, Romanshorn

Lagerbericht der Klasse 1Mb, Kantonsschule Romanshorn

Der Löwenzahn färbt unsere Wiesen schön gelb, und das Gras steht bereits kräftig grün auf den Weiden. Da kommt so richtig Frühlingsstimmung auf! Nicht jedoch bei den 16 Schülerinnen und Schülern der Klasse 1Mb von der Kantonsschule Romanshorn. Nach einer Lagerwoche in Dussnang (Gemeinde Fischingen TG) herrschen freudige Frühlingsgefühle, wenn sie und ihre beiden begleitenden Lehrpersonen nicht Löwenzahn sehen, sondern Wandkies-Rabatten – sogenannte Ruderalflächen. Die Herzen der 15-Jährigen schlagen auch nicht höher beim Anblick von saftig grünem Gras, sondern vom weiss blühenden Schwarzdorn, den sie am Waldrand vorfinden, in dem sie holzen durften. Was ist das für eine verkehrte Welt?

Die Antwort ist ganz einfach. Bei einem Umwelteinsatz, organisiert durch die «Umweltstiftung Schweiz», lernt die Klasse auf eindrückliche Weise, was Biodiversität heisst. Sie weiss nun, dass der aufgeräumte Wald nach reinlicher Schweizer Manier und die gewinnbringende, gedüngte Monokultur (mit oft nur Gras und Löwenzahn) keinen guten Lebensraum bieten für Insekten, Reptilien, Amphibien, kleine Säugetiere und Vögel. Da gibt es keinen Platz für ein ruhiges Versteck, keine natürliche Fluchtmöglichkeit und keinen Ort für die Paarung und die Brutpflege. Der Mensch hat sich breit gemacht und seine Umgebung nach seinem Gusto «verschönert». Und nicht nur die Tierwelt ist dadurch bedroht, nein, auch die Pflanzenwelt, denn Fauna und Flora und selbstverständlich auch der Mensch sind regional vernetzt. Ranken zum Beispiel wilde Brombeeren auf der Waldlichtung, auf der die Klasse 1Mb arbeitete, hat das seltene Purpur-Knabenkraut keine Chance mehr zu wachsen. Und wenn diese Orchidee nicht gedeiht, verlieren spezielle Insektenarten ihre Bestäubungspflanzen. Ragwurz-Arten locken mit ihrem verführerisch duftenden Parfüm und dem adretten Aussehen hochgradig spezialisierte Männchen von Hummeln, Wildbienen, Fliegen oder Spinnen an. Haben diese Insekten immer weniger Lebensraum, mögen Vögel wie der Wiedehopf, welche sie fressen, nicht mehr in diesem Gebiet wohnen. Da gibt es nur eines: Fliehen oder Aussterben. Oder aber die Orchidee wird von Laub und Brombeerranken behutsam befreit von vielen engagierten Menschen, die sich einsetzen für ihre gefährdeten Mitkreaturen.

Orchideen befreien und Waldrand holzen
Niklaus Schnell ist einer davon. Er arbeitet unermüdlich und mit freudigem Eifer im Verein NaturPlus Fischingen. Er ist es, welcher der Kantiklasse beim Orchideen-Befreien hilft oder beim Waldrand-Holzen erklärt, wie wertvoll alle dornigen Büsche und Stauden sind. «Diese ja nicht absägen, gell! Der Neuntöter wird es euch danken.» Dieser stark gefährdete Vogel spiesst etwa neun seiner Beutetiere, wie Heuschrecken oder andere Insekten als Vorrat auf den Dornen auf.

«Die vielen kleinen Buchen dürft ihr absägen.» An dieser Stelle am Waldrand sollen nämlich nur wenige der grossen, schattenspendenden Bäume stehen. Reptilien, wie die Ringelnatter oder die Zaun- und Waldeidechse, brauchen Wärme und freuen sich über einen lichten Wald. Sie finden Unterschlupf, Brutplatz und Schutz in den grossen Ast- oder Steinhaufen – eben im «unordentlich» aussehenden Wald. Und den abgestorbenen, halb gekippten Baum räumen wir auch nicht auf die Seite, denn «wisst ihr, die Haselmaus kann viel leichter auf dieses schräg stehende Bäumchen klettern als auf die senkrechte Staude», lehrt uns Schnell mit seiner begeisternden Art. Die Klasse lauscht gebannt seinen Vorträgen und macht sich dann eifrig ans naturfreundliche Aufräumen des Waldes. 

Weiher pflegen und Böschung naturgerecht verschönern
Jeden Tag steht eine andere Arbeit auf dem Programm. Um neun Uhr morgens wartet die ganze Gruppe vor dem evangelischen Pfarreiheim in Dussnang, ihrem Lagerhaus. Es ist oft kalt und nass, und die Lagerteilnehmenden sind etwas übernächtigt. Trotzdem ist die Laune gut. Mit Regenhosen und -jacken ausgerüstet und in Gummistiefeln, welche von Tag zu Tag dreckiger werden, warten sie mit ihren Velos auf die drei engagierten und humorvollen Pensionäre, Niklaus Schnell und seine beiden treuen Helfer Jörg und Georg.

Am ersten Tag wird eine Wildblumenböschung von Unkraut gejätet und von Laub befreit und eine andere Stelle eingezäunt. An einem anderen Tag radelt die Gruppe zu kleinen Unkenweihern. Hier muss die schwarze Folie am Rand gekonnt im Lehm begraben und das Laub aus dem Wasser gerecht werden. Für die seltenen Amphibien mit dem gelb-schwarz marmorierten Bauch ist es noch zu kalt. Sie lassen sich nicht blicken. Dafür zeigen sich unzählige Bergmolche, welche sich im Falz der schwarzen Folie gemütlich eingerichtet haben. Behutsam werden die Tierchen ins Wasser gebracht, bevor die eisernen Pickel und Schaufeln die Böschung naturgerecht verschönern.

Am Anfang wirkt der «pflutschige» Boden etwas bedrohlich auf die Gruppe, die normalerweise trockenen und sauberen Schulboden gewohnt ist. Aber schon bald werden die Stiefel und Gartenhandschuhe so dreckig, dass man sie kaum mehr erkennt. Ist dieser Bann mal gebrochen, kniet Frau und Mann im Morast, wird Lehm wie Tarnfarbe auf das Gesicht geschmiert, bewirft man(n) sich gar mit der beigen Erde und lacht vergnügt über das längst vergessene Kinderspiel, das so herrlich befreit von den Zwängen des Erwachsenenlebens. Wir werden eins mit der Natur.

Der Natur mit Respekt begegnen
Die Arbeit in und mit der Natur hat alle Teilnehmenden zusammengeschweisst. Und nicht nur das; sie hat ihnen auch die Augen geöffnet. Natürlich finden wir den blühenden Löwenzahn immer noch schön. Aber das noch mickrige, von uns im Kies gepflanzte Glockenblümchen finden wir interessanter, die abgestorbenen Pflanzenstiele auf der Wildblumenwiese – Behausung vieler Insekten – finden wir lebendiger und die unermüdliche Arbeit für alle heimischen Kreaturen, die gerade hinter uns und lebenslang noch vor uns liegt, finden wir herausfordernd und bereichernd. Hoffentlich können immer mehr Menschen angesteckt werden von dieser Freude an der schönen Natur. Auf dass wir ihr mit Respekt begegnen und sie mit Sorgfalt hegen und pflegen!

Mirjam Pazeller-Munz
Klassenlehrerin der Gymi-Klasse 1Mb
Kantonsschule Romanshorn

 


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