Unermessliches Leid, traumatisierte Menschen, grosse Solidarität

  16.03.2023 Brennpunkt, Romanshorn, Salmsach, Uttwil

Die Uttwiler Gemeindeschreiberin Aliye Gül hat beim Erdbeben am 6. Februar in der Südtürkei ihren Mann und weitere Angehörige verloren. Vor Ort und von der Schweiz aus versucht sie zu helfen.

Bewegendes Interview mit Aliye Gül, Betroffene.

Aliye Gül, Sie waren bereits zum zweiten Mal in Antakya.Wie beurteilen Sie die Situation der Menschen?
Aliye Gül: Zunächst danke ich allen, die mich bei meiner spontanen Hilfsaktion finanziell und moralisch unterstützt haben. Ich habe Spenden von Privatpersonen, Firmen, Gemeinden, politischen Organisationen, Vereinen, Sportclubs, Altersheimen, Stiftungen erhalten (u. a. Lismergruppe Haus Holzenstein, Frauenverein Kreuzlingen, SP-Flohmarkt Romanshorn, Stiftung Lions Club Untersee-Thurgau). Einfach grossartig. Die Betroffenen sind unendlich dankbar.
Ich war nochmals in Antakya. Alles ist zerstört. Es gibt keine Unterkünfte mehr. Verwesungsgeruch lag in der Luft, Leichen waren aufgeschichtet, Massengräber sind errichtet. Keine Gebäude mehr – nur noch blauer Himmel und ein leerer Horizont. Es gibt keine Familie ohne persönliche Verluste. Sie haben alles verloren. Inländische Organisationen und türkische Warenhaus-/Lebensmittelketten waren vor Ort und verteilten Suppe, Brot, Früchte, Wasser, Decken, Hygieneartikel.

Was brauchen die Menschen aktuell am dringendsten?
Sie nehmen jede Hilfe dankend an. Es braucht Unterkunftsmöglichkeiten in Form von Containern und Zelten. Glücklicherweise ist die Temperatur angestiegen. Stationen für den Geldbezug sind nun eingerichtet.

Was ist Ihr Eindruck, bleiben die betroffenen Einwohner in der Stadt oder werden sie sich neu orientieren?
Ich schätze, dass von den gegen 500ʼ000 Einwohnern rund 80 Prozent die Stadt verlassen haben. Ich bin sicher, dass viele zurückkehren werden. Man muss wissen, Hatay ist ein spezieller Teil der Türkei. Die Provinz ist ein Vielvölker-Staat, war bis 1938 selbstständig, bevor er zur Türkei kam. Besonders ist die friedliche Koexistenz von Alewiten, Sunniten, Christen und Juden. Die Hälfte ist syrischer Abstammung.

Sie haben Ihren Mann beim Erdbeben verloren.Wie geht es Ihnen aktuell?
Es geht mir nicht gut. Ich funktioniere irgendwie und brauche Schlafmittel. Mein Ehemann Resit war ein so guter, lieber Mensch. Das «Trauerkaffee» der evangelischen Kirche in Amriswil hilft mir.

Wie sieht Ihre persönliche Planung aus?
Die Arbeit bei der Gemeinde Uttwil tut mir gut. Das gibt Ablenkung. Das Verständnis der Mitarbeitenden, des Gemeinderates und der Bevölkerung ist gross. Meine Trauer wird mitgetragen. Uttwil möchte ich treu bleiben.

Werden Sie wieder nach Antakya zurückreisen?
Ja, in ein bis zwei Monaten. Ich möchte dann auch die Friedhofssituation erkunden, wo mein Mann beerdigt ist. Dann wird man mehr wissen, ob die Stadt am bisherigen Ort aufgebaut wird oder allenfalls an einem weniger vom Erdbeben gefährdeten Platz.

Die Spenden, die Sie erhalten haben − wie werden diese eingesetzt?
Ganz wichtig bei der Unterstützung ist, dass ich keinen Unterschied mache zwischen den ethnischen und religiösen Volksgruppen. Als ich am Morgen des 6. Februar von diesem unglaublichen Erdbeben vernahm, wollte und musste ich helfen. Ich wusste noch nicht, dass mein Ehemann verstorben ist. Ich startete mit einer Geldsammelaktion. So konnte ich über 40ʼ000 Franken sammeln und diese in Form von Beträgen zwischen 100 und 500 Franken an Personen und Familien, je nach Grösse und Situation, als Soforthilfe weitergegeben. Ich tue dies immer im guten Glauben.

Interview Markus Studerus


Wie kann man helfen?
Wer Aliye Gül bei ihrer Arbeit vor Ort schnell und unbürokratisch unterstützen möchte, kann dies weiterhin über folgendes Konto:
IBAN CH03 0078 4174 4944 6380 6, Aliye Gül, Waidackerstrasse 1, 8592 Uttwil, Vermerk «Erdbeben Hatay»
oder per Twint 079 778 44 47.

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